Ich steige aus meinem Wagen. Hier komme ich nicht mehr weiter. Der Wald ist zu dicht.
Das braun-gelbe Laub unter meinen Schuhen knistert feucht. Ich schlüpfe zwischen den düsteren Fichten hindurch. Tannenäste voller wild und scharf abstehenden Nadeln streifen über meine Wangen und Haare, während ich vorwärts wate. Der Wald ist bald dunkel. Nur der Nebel, der sich in ungleichmässigen Schwaden um die tiefbraunen Stämme verteilt hat, streut noch ein wenig Licht.
Umkehren? Keine Option.
Ich muss weiter.
Gibt es einen Lichtblick? Den gibt es bestimmt. Nur kann ich ihn im Moment nicht sehen. Ich kann ihn nur erahnen. Ich muss darauf vertrauen, dass er da ist. Dass er dann da ist, wenn ich
ankomme.
Ich fahre prüfend mit meiner Hand über meine Hüfte, an der mein altes Messer in einem Lederholster steckt. Es ist noch da. Ich werde es bald brauchen...
Ich bin bestimmt schon über einen Kilometer weit in den Wald hinein geschlichen. Manchmal konnte ich den Laut einer Eule in der Ferne hören. Und der mächtige Atem des Windes, der über die
Tannenspitzen streifte. Doch jetzt ist es ruhig. Zu ruhig.
Kaum huscht dieser Gedanke durch meinen Kopf, sehe ich einige Meter vor mir eine Gestalt. Eine dunkle Wolke mit menschlicher Silhouette. Nur grösser. Bedrohlich schwebt sie
zwischen einigen Stämmen leicht auf und ab. Ich umklammere fest den Holzgriff meines Messers. Warum musste ich auch eine so grosse Klappe haben? Warum musste ich herausposaunen, dass ich die
Schlacht gewinnen werde? Warum ging ich in diesen Wald?
Tief in mir drin weiss ich es. Es musste sein- Es muss sein. Jetzt.
Die Gestalt kommt auf mich zu. Zuerst langsam, dann immer schneller. Ein Geräusch, das aus tausenden Schreien gefolterter Menschen zu bestehen scheint, bricht aus der Gestalt
los.
Ich versuche mein Messer aus dem Holster zu ziehen, doch es hat sich verheddert. Erst kurz bevor die dunkle Wolke mich erreicht hat schaffe ich es, die Klinge aus dem Leder zu befreien. Ich
reisse das Messer hoch, die Klinge blitzt im schwachen Schein des grauen Nebels kurz auf. Dann trifft mich ein starker Hieb mitten ins Gesicht. Wie Schleifpapier tost die Wolke um mein Gesicht.
Mein Messer wird gewaltsam aus meiner Hand gerissen. Ich merke, wie ich mit heftiger Wucht gegen einen dicken Baumstamm geschmettert werde.
Ich liege am Boden und ringe nach Luft. Meine Lungen brennen, meine Wangen sind aufgerissen. Blut rinnt aus meiner Nase. Ein stechender Schmerz zieht sich von meinen Schultern bis zu meinem
linken Fuss.
Ich sitze langsam auf und blicke mich um. Die Gestalt schwebt durch den Wald, holt erneut Anlauf um mich zu treffen. Die gequälten Schreie werden lauter.
Ich sehe mich nach meinem Messer um. Doch ich kann es nicht finden. Als ich mich wieder umdrehe spüre ich bereits den nächsten Hieb, der mich am Kopf trifft. Ich sacke zu Boden.
Mein Gesicht steckt zwischen nassen Blättern und schmierigem Waldboden im Dreck. Mein Atem geht schnell und mein Herz hämmert. Ich möchte aufgeben, liegenbleiben.
Ein Gedanke durchquert meinen Kopf wie ein Güterzug mit guter Ladung: Ich hatte mir versprochen, nicht aufzugeben. Ich hatte mir versprochen, die Schlacht zu gewinnen. Ich hatte mir versprochen,
keine Angst zu haben. "Verdammt, ich habe es versprochen!" Wunden töten mich nicht. Sie wecken mich nur.
In meinem Bauch sammelt sich Groll. Groll der mächtig ist. Ich rappele mich auf und streife mir den Dreck aus dem Gesicht. "Scheiss auf das Messer." Einige Meter entfernt erkenne ich die Gestalt,
die sich gerade umdreht, um mich ein letztes Mal mit voller Wucht anzugreifen. Mich zu erledigen, mich zu töten. Ich weiss, ich kämpfe mit meiner eigenen Angst. Mit meinem Eigenen Schmerz.
Ich öffne meine Lederjacke und lasse meine Hand schnell zum Griff meines Revolvers wandern, der im Körperholster steckt.
Mit der anderen Hand öffne ich die Brusttasche meines Hemdes und ziehe die Patrone heraus. Meine einzige. Ich lasse die Trommel herausschnellen und schiebe zügig die Patrone ins oberste Loch.
Dabei streife ich über die Gravur an der Seite der Hülse "Last of Thunders".
Das Ächzen der Stimmen, die der dunklen Silhouette folgen, wird so laut, dass der Boden unter meinen Füssen vibriert.
Ein widerliches Gurgeln ertönt über mir. Alles scheint noch schwärzer zu werden. Mit rasender Geschwindigkeit prescht die Gestalt auf mich zu.
"Ich kann nicht zurück. Und ich gehe nicht zurück." Ich lasse die Trommel zurück in den Revolver schnappen und ziehe den kalten Hammer am Revolver zurück. "Deine Schicht ist beendet, Angst."
In diesem Moment erkenne ich zu ersten Mal die hasserfüllten Augen der Gestalt. Feurig, giftig, wutentbrannt. Ich drücke den Abzug. Der Schuss löst sich mit einem lauten Knall. Eine
Feuerspur verfolgt ihn.
Dann: Ein gewaltiger Donner. Der ganze Wald tost wie klirrendes Glas, wie zusammenprallender, mächtiger Stahl. Weisses, gleissendes Licht dringt zwischen den Stämmen hindurch. Die dunkle
Wolke zerstäubt in alle Richtungen. Ich klappe zusammen.
Als ich wieder zu mir komme, sieht der Wald komplett anders aus. Freundlich, warm.
Einige Sonnenstrahlen kitzeln mich an der Nase. Ich verfolge sie. Sie führen mich zum Waldrand, wo sich vor mir ein junger Abendhimmel erstreckt. Ich blicke zum Wald zurück und weiss: Das ist
jetzt mein Wald.
Mani
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